Concertgebouw

In der U-Bahn auf dem Weg zur Elbphilharmonie bettelt ein armer Mensch die Fahrgäste um „ein paar Cent, einen Euro, irgendwas“ an, leider macht er dabei zwei entscheidende Fehler, er ist ziemlich auf Drogen und er pöbelt unentwegt einfach alle an. Niemand ist also bereit, ihm „ein paar Cent, einen Euro, irgendwas“ zu geben, was seine Aggression nur noch schürt, wahlweise ruft er den Leuten, die sich beschweren oder sich über ihn lustig machen „Halt die Fresse!“ zu oder droht ihnen Schläge an. Ich blicke sehnsüchtig nach draußen. Er kommt vor mir zu stehen, ich gebe vor, weiter aus dem Fenster zu schauen und denke: „Bitte nicht“, denn ich möchte nur sehr ungern mit Kampfspuren im Konzerthaus auftauchen müssen. Aber er ahnt schon, es bei mir mit der größten Mimose der Bahn zu tun zu haben und geht weiter, mich verachtend, aber ohne mich mit einem Kommentar zu versehen. Was er jedoch bei seinem weiteren Gestolper durch den Zug bei den anderen eifrig weiter tut, keiner bleibt verschont.
Das ist heutzutage als normal zu bezeichnen, so hatte ich es in der Vergangenheit auf der Fahrt zu den Konzerthäusern Hamburgs beispielsweise schon mit mehreren Persönlichkeiten in nur einem menschlichen Körper zu tun, die sich heftig anschrien und gegenseitig umbringen wollten, und einmal setzte ich mich in einen von einer nicht näher definierbaren Flüssigkeit durchtränkten Sitz. Na wunderbar.

Draußen hole ich zufällig L. ein, der auch zum Konzert geht, wir begrüßen uns und machen Fotos von der in der Abendsonne glitzernden Elphi, wie so Touristen.

L., M. und ich beschließen drinnen den Aufzug nach oben zu nehmen, die Frau, die am Extraeingang zu den Fahrstühlen mein Ticket scannt, fragt mich: „Na, sind Sie heute faul?“
„Wie bitte?“, möchte ich wissen und sie antwortet: „Weil Sie mit dem Lift nach oben wollen.“
Darauf werfen M. und ich uns gegenseitige Schuldzuweisungen an den Kopf, wer denn von uns hier der Faule sei, wegen dem wir immer den Aufzug nehmen müssen, anstatt locker beschwingt die vielen Treppen hinaufzugleiten. Das geht so eine Weile hin und her, die Frau mit dem Scangerät ruft uns „Trotzdem viel Spaß beim Konzert!“ hinterher.

Wir quetschen uns in den recht vollen Aufzug und M. fragt in die Runde, ob denn jemand zufällig bereits die 11 gedrückt habe (das ist die Etage mit der Garderobe), seine Frage wird verneint, aber eine Frau, die in Reichweite der Knöpfe steht, erklärt sich bereit, den richtigen für uns zu drücken. „Nur zur 11? Das hätte man aber auch zu Fuß gehen können“, entfährt es einem Rentner, „Die paar Stufen, also locker“ einem anderen. Als der Lift die 11. Etage erreicht hat, wird uns mit den Worten „Nun lasst das fußfaule Volk mal aussteigen“ Platz gemacht, verhöhnt und gedemütigt schleichen wir uns von dannen.
„Was ist denn heute nur los?“ fragt M., ich entgegne: „WTF?“
Um erst gar keine weiteren Hänseleien aufkommen zu lassen, legen wir die restlichen Stockwerke, von dem 11. bis zum 16., wo sich unsere Plätze befinden, tatsächlich zu Fuß zurück, wenn das die Rentner nur wüssten oder wenigstens ahnen könnten.

Das Royal Concertgebouw Orchestra aus Amsterdam unter der Leitung von Klaus Mäkelä spielt zuerst Verklärte Nacht op.4 in der Fassung für Streichorchester von Arnold Schönberg, danach folgt die Sinfonie Nr. 1 in D-Dur von Gustav Mahler. Es ist fulminant und der Applaus frenetisch.
So viel dazu, es sollen Menschen über Musik schreiben, die das besser können, teilweise machen sie es sogar.

L. und ich sitzen uns auf dem Weg nach Hause in der U-Bahn gegenüber, in unserer Nähe hat ein junger Mann Platz genommen, zwischen seinen Beinen ein kleiner Koffer, weshalb einer seiner beiden Füße ein wenig in den Gang hineinragt. Später steigt ein älteres Ehepaar zu, sie in schrill bunt, er immerhin in gummibootknallroter Jacke. Er macht einen lockeren Schritt über den Fuß des jungen Mannes, nicht jedoch sie, sie befiehlt ihm, sofort den Fuß wegzunehmen, denn wenn sie, und das sind ihre eigenen Worte, jetzt eine Schwalbe mache, käme ihn das teuer zu stehen. Er gehorcht bereitwillig und sogleich, er blickt nur ganz kurz freundlich grinsend auf, um sich anschließend sofort wieder seinem Smartphone zu widmen, ich bin voller Bewunderung für so viel Gelassenheit. Der schrille Drachen sitzt nun neben mir, der Fuß beschäftigt sie noch minutenlang, sie kriegt sich nicht wieder ein, wir bekommen einen Vortrag über schlechte Erziehung, irgend jemand muss diesen Leuten ja Benimm beibringen und sie möchte sich nicht wegen so jemanden die Knochen brechen usw. usf., es ist nicht auszuhalten.
Endlich, unsere Station ist in Reichweite. Als L. und ich uns erheben, schaue ich dem Mann in der frechen roten Jacke eindrücklich in die Augen und schüttele dabei tadelnd mit dem Kopf, hoffentlich überzeugt ihn das, noch heute Abend die Scheidung einzureichen oder seine Frau wenigstens zu töten, während ich zuhause Arnold Schönbergs und Gustav Mahlers Werken lausche.


Der Weg zum und vom Concertgebouw ist stets hart

Posted by katarrh

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