Villeneuve ist am 1. Mai extra nach Hamburg gekommen, wir wollen am Abend zu Jawbreaker ins Docks gehen und tun dies auch.
Diese Musikgruppe war in den 1990ern in irgendeinem punkbezogenen Underground recht groß, Villeneuve war und ist ein großer Fan von ihnen und ich hörte mir in der Vergangenheit auch mal ein paar Songs an. Aus Protest aber nicht mehr, denn der Sänger Blake Schwarzenbach rempelte mich 1995 vor einer Eisdiele in Berlin rüde an, weswegen mir meine schöne Kugel Schlumpfeis aus der Waffelhalterung auf die Straße ploppte (die Folge: Jede Menge Blechschaden, zwei Schwer-, drei Leichtverletzte und die Farbe seines frisch gestochenen Tattoos ging nie mehr aus meinem weißen Metallica-Shirt heraus).
Aber das ist lange her, ich bin mir zudem nicht mehr sicher, ob sich das wirklich so zutrug und meiner Meinung nach besaß ich damals lediglich zwei weiße Band-Shirts und keines davon war von Metallica.
Das Docks ist angenehm gefüllt, denn es sind ausschließlich über 40-Jährige anwesend und der Veranstalter möchte diesen nicht zumuten, zu dicht gedrängt stehen zu müssen, weil man in diesem Alter das nicht mehr abkann und deswegen die Stimmung schnell kippt. Die Luft ist ganz gut, es riecht nicht allzu streng nach alten Menschen, von denen sich manch einer bereits ein Bier im 1-Liter-Becher geholt hat, damit er sich nicht so oft mit seinen in die Jahre gekommenen Beinen auf den weiten und anstrengenden Weg zum Tresen machen muss.
N., die früher für ein Musikmagazin für die Jugend journalistisch tätig war und heute für eine Art Erwachsenenzeitung schreibt, läuft uns über den Weg; die Freude ist groß, denn Villeneuve ward seit 18 Jahren von ihr nicht mehr gesehen. Doch lange können wir uns nicht miteinander unterhalten, denn pünktlich um 20 Uhr beginnt die Vorband Beach Slang, deren Frontmann wie ein Jack White für Arme wirkt und mit rotierendem Arm über seine Gitarre schrammelt. „Ein bisschen zu affektiert“, lautet Villeneuves Ü-40-Kommentar dazu, ich bin aber abgelenkt, weil ich mich im Halbdunkel den gesamten Auftritt über frage, wie herum eigentlich meine professionellen Gehörschutzdinger in die Gehörgänge gehören und in dieser schwierigen Mission mit vielen Versuchsreihen beschäftigt bin.
Alles in allem ein okayer Auftritt.
Die Pause vor der Hauptband wird von manch einer Silberzwiebel genutzt, um stöhnend weitere volle Literbecher am Tresen zu erwerben; Villeneuve und ich bleiben aber bei den normalen 0,4-Liter-Trinkgefäßen, schließlich möchten wir in unserem Alter nicht mehr zu schwer tragen müssen.
Dann Jawbreaker – bei den ersten zwei, drei Songs bildet sich vor der Bühne ein Erwachsenenpogokreis, wir hören unschön morsche Knochen splittern. Danach ist aber sowieso Schluss mit dem wilden Getue, denn keiner in diesem Alter hält das länger durch.
Einige Oldies erlernen die Funktionen ihrer modernen Smartphones, verzweifelt wird mit zwei Fingern über das Display gewischt, um die Künstler heranzuzoomen und wie zur Hölle wechselt man nochmal vom Foto- in den Videomodus? Vor uns steht ein grauhaariger Mann mit Brille, der sich auf seinen Bildschirm extra die Gitterlinien einblenden lässt, trotzdem gerät ein jedes seiner Fotos beeindruckend schief. Auch er wechselt ab und zu in den Videomodus, grundsätzlich mitten in einem Song und kurz vor Ende desselben bricht er die Filmerei wieder ab. Sicherlich werden er und einige seiner Freunde in naher Zukunft sehr viel Freude an diesen schrägen Videoschnippseln haben.
Hinter uns sagt zwischen zwei Musikstücken einer zu seinem Nebenmann: „Für Hamburger Verhältnisse ist die Stimmung heute ja ganz gut.“
„Hey, du Idiot, wenn nicht jeder fünfte im Publikum immer diesen blöden Spruch aufsagte, sondern sich stattdessen aufs Stimmungsmachen konzentrierte, wäre die Stimmung eine viel bessere“, lautet meine Antwort, jedoch denke ich mir die nur und schreibe sie jetzt hier auf, wodurch ich die Konzertwelt gleich zu einer etwas besseren mache.
Alles in allem ein sehr schöner Auftritt.
Anschließend gehen Villeneuve und ich im Sorgenbrecher zu „Like A Prayer“ von Madonna vollkommen apeshit. „Body Count’s in the House“ von Body Count kommt auch. Alte Menschen, alte Lieder.